Märchen und die Sache mit dem halbvollen und dem halbleeren Glas
Stellen Sie sich vor, ein Optimist und ein Pessimist sind durstig. Vor ihnen steht jeweils ein Glas Wasser. Beide Gläser fassen theoretisch 200 ml und sind tatsächlich aber mit 100 ml gefüllt. Was wird der Optimist dazu sagen und was der Pessimist? – Nun, wir können mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass der Optimist erklären wird: „Das Glas ist halb voll.“ Ebenso wahrscheinlich aber wird der Pessimist bemerken: „Das Glas ist halb leer.“ Beide Aussagen beschreiben die gleiche Situation, und beide sind wahr. Und doch besteht hinsichtlich ihrer Bedeutung zwischen ihnen ein fundamentaler Unterschied: Der Durst des Optimisten nämlich lässt schon beim Anblick des Glases deutlich nach; dem Pessimisten aber bleibt – selbst, als er das Glas ausgetrunken hat - die Kehle trocken. Sie kennen dieses Gedankenspiel vielleicht.
Nun, was folgt daraus? Sicher werden Sie mir zustimmen, dass Optimist und Pessimist die gleiche Situation ganz offensichtlich unterschiedlich wahrnehmen. Das Interessante aber ist, dass sie, indem sie die Situation unterschiedlich wahrnehmen, diese zugleich ihrer jeweiligen Erwartung anpassen. Sie konstruieren sich beide ihr Bild von der Wirklichkeit, und dieses Bild i s t für sie Wirklichkeit, und zwar so sehr, dass der eine durstig bleibt, während der andere sich erfrischt fühlt.
Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, dann folgt daraus: Es gibt keine objektive Wirklichkeit, sondern immer nur das subjektive Bild, das wir uns von ihr machen. Und auf das Wort „machen“ kommt es hier an: „Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt!“ So heißt es in dem Titellied der Filme über jenes berühmte Mädchen aus Schweden, das mit den Füßen auf dem Kopfkissen schläft, das Räuber verjagt, als wär’s ein Spiel, und das „Plutimikation“ für überbewertet hält.
Märchenerzähler halten es ähnlich wie Pipi Langstrumpf. Auch sie machen sich eine Welt, wie sie ihnen gefällt, eine Welt, in der der Däumling die Großen und Starken besiegt, der schmächtige Schneider den gewaltigen Riesen aufs Kreuz legt, das Aschenbrödel als strahlende Schönheit den Prinzen erobert, die Frau das, was der Mann sich nicht traut, in die Hand nimmt, der Bettelmann König wird, der Dumme die Aufgaben löst, an denen der Kluge gescheitert ist, und gerade der Jugendlich-Unerfahrene sich als besonders weise herausstellt.
Das ist subversiv. Das setzt Kräfte frei, die Veränderung schaffen können. Doch das verstört auch die Etablierten. Deshalb gibt es vielfältige Strategien, Märchen unschädlich zu machen:
Ich plädiere dafür, Märchen mit den Augen eines Konstruktivisten zu hören und zu lesen, der sich nicht zufrieden damit gibt, die Welt so zu sehen, wie sie immer und überall gesehen wird, der sich nicht fatalistisch in sein Schicksal fügt, der die Hände nicht in den Schoß legt, sondern optimistisch an einer Welt bastelt, wie sie ihm gefällt, der sich dabei von den selbsternannten Realisten nicht als weltfremder Spinner verunglimpfen lässt, sondern der sich die Welt aktiv und ganz real zu seiner Heimat macht. „I have a dream“, hat Martin Luther King gesagt und diesen Satz mit unerschütterlicher Überzeugung den scheinbar unverrückbaren Gegebenheiten seiner Zeit entgegengestellt. Und nur mit der Kraft dieser seiner Phantasie hat er den Blick der Menschen auf die Dinge entscheidend verändert.
Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion möchte ich Martin Luther King zitieren und seine Worte von vor über fünzig Jahren als Denkanstoß verstanden wissen:
"Ich habe einen Traum, dass eines Tages die Söhne von früheren Sklaven und die Söhne von früheren
Sklavenbesitzern auf den roten Hügeln von Georgia sich am Tisch der Bruderschaft gemeinsam niedersetzen können... Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation
leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.
ICH HABE EINEN TRAUM...
Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt werden."
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